Of Goats, Scapes and Appropriations



11/12/2021 - 12/02/2022


Zilberman | Berlin freut sich, die Soloausstellung Of Goats, Scapes and Appropriations des Künstlers Guido Casaretto anzukündigen.

Guido Casaretto hat sich damit befasst, Materialien als das Resultat von Entstehungsprozessen sichtbar zu machen. Ihm geht es darum, solche Prozesse nachzuahmen, um sich und dem Betrachter das Verständnis eines über Zeiträume Gewordenen zu ermöglichen. Of Goats, Scapes and Appropriations versammelt skulpturale Arbeiten sowie das Video Crossing Carnevale (2019), in denen sich der Künstler mit verschiedenen Aneignungsprozessen beschäftigt, und diese selbst zum Schauplatz einer Konfrontation werden lässt. Dabei vollzieht Casaretto verschiedene Aneignungsleistungen, wie sie im Laufe eines einzelnen Lebens stattfinden, aber auch konstitutiv für gesellschaftliche Prozesse sein können.

Für Black Hole: Church Bench (2020) hat Guido Casaretto, ausgehend von einer vorgefundenen Kirchenbank, sechs Abgüsse geschaffen. Zunächst formt er die Kirchenbank ab, anschließend wird sie geschreddert, und aus dem geschredderten Holz, vermischt mit Harz, schafft er so viele Reproduktionen wie Material vorhanden ist. Die Farbigkeit der so entstehenden Skulpturen wird vom Material bestimmt, die Vervielfältigung erinnert an industrielle Produktion. Zugleich bleibt aber durch das Material eine Identität mit dem Original bestehen, in das sich die vielen Berührungen durch die Kirchengemeinde bei ihren rituellen Handlungen eingeschrieben haben. Wie ein historischer Gebrauchsgegenstand in einem Archäologie-Museum dekontextualisiert und zu einem Artefakt wird, so sind auch Casarettos Bänke aus ihrem Funktionszusammenhang herausgerissen und mit neuer Bedeutung aufgeladen. Auch die Reproduktionen treten in Beziehung zu etwas, das seinen Ort und seine Zeit hat. Die ursprüngliche Kirchenbank stammt aus der Sankt Stephans Kirche in dem Stadtviertel Yesilköy in Istanbul, in die Casarettos Familie zu gehen pflegte, in einem Viertel, dass bekannt war für seine gemischte Bevölkerung griechischer, italienischer, armenischer, oder, wie Casaretto häufig selbst betont, levantinischer Herkunft. Er selbst bezeichnet sich als Levantiner, dessen italienische Familie – es waren meist Kaufleute – noch während des Osmanischen Reichs eingewandert war. Den Mittelmeerraum bezeichnet Casaretto als eine wiederkehrende Referenz in seinen Arbeiten.

Eine überlebensgroße figürliche Skulptur stellt den Komiker, Schauspieler und Autor Stephen Fry dar, der aufgrund seiner vielseitigen Bildung und Begabung von Kritikern als der letzte „Renaissance-Mensch“ des 21. Jahrhunderts benannt. Einen ironischen Kommentar hierzu liefert Casaretto, indem er ihn in der Weise einer manieristischen Skulptur gestaltet, anders als er bei seinen Büsten verfährt, wo er Figuren aus Computeranimationen mit traditionellen Techniken analog rückübersetzt.

Erlerntes Wissen wird im Handwerk überliefert, das Guido Casaretto nachahmt und durch Wiederholung bis zu automatisierten Bewegungsabläufen beherrscht. So formt Casaretto aus Ton sogenannte Orecchiette, eine bestimmte Form italienischer Pasta aus Apulien, die traditionell von Hand hergestellt wird. Es geht ihm um die repetitive Bewegung der Hände und seines Körpers, um die Fingerfertigkeit, die er sich erst vor Ort in der Galerie Zilberman aneignet. Die Reste des Herstellungsprozesses, die Krümel und Fehlstücke bleiben sichtbar. Casaretto unterwirft hier sein künstlerisches Verfahren externen Vorgaben, womit er ein vermeintlich souveränes Künstlersubjekt infrage stellt.

In seinem Video Crossing Carnevale (2019, 12 min) greift Casaretto auf eine vorchristliche Karnevalstradition der Mamuthones in Sardinien zurück, die bis heute reinsiziniert wird und die Casaretto in eine fremde Landschaft versetzt, nämlich in einen ausgetrockneten Salzsee, den Lak Tuz in Zentralanatolien. Der Überlieferung nach brechen die Mamuthones von Sardinien über das Meer nach Ligurien auf (aus der Region stammt Casarettos Familie), um einen Angehörigen aus einem anderen Stamm zu entführen und zu opfern im Sinne eines Sündenbockmechanismus, was auch in anderen Karnevalstraditionen zu beobachten ist. Casaretto zeigt die Rückkehr über das Meer mit dem Entführten, hier der ausgetrocknete Salzsee, den die vier Personen überqueren, eine leere Landschaft, die wirkt wie auf einem anderen Planeten. In dem Video ist die zweite Person der Entführte, und Casaretto selbst spielt die Rolle eines Kriegers. Das Video ist ohne Ton, die Bewegungen sind in Zeitlupe, teils sehen wir die Gruppe aus der Vogelperspektive im Panoramablick, dann auch näher im Detail. Sie tragen altertümliche Kostüme, Glocken und Tiermasken mit Hörnern, die aus anderen Materialen, teils aus Harz, nachempfunden sind.

Schließlich hat Guido Casaretto in einem Wandrelief aus einer aus Porenbeton gebauten Mauer, die entlang einer Wand aufgetürmt ist, ein Gebirge gemeißelt. Eine gebaute Mauer ist eine von Menschen gemachte Grenze zwischen innen und außen, dem anderen und dem eigenen, wie auch das Gebirge eine natürliche Grenze ist. Zugleich greift Casaretto auf Praktiken des trompe l’oeil zurück, wobei weniger eine Abgrenzung als die Illusion des Ausblicks auf ein Gebirge geschaffen wird.

Casaretto rekonstruiert durch Selektion und Neukombination Gegenstände und Prozesse. Er schafft auf diese Weise eine Hyperrealität, die sich letztlich vor die Originale schiebt. Es geht nicht um die Unterscheidung zwischen Vorbild und Abbild, Realität und Imagination, sondern eher um das Wissen eines fortlaufenden Kontinuums zwischen Werden und Vergehen, um dynamische Systeme, deren zeitliche Entwicklung unvorhersagbar bleibt.


Guido Casaretto (geb. 1981, Istanbul) lebt und arbeitet in Istanbul. Er wuchs in Istanbul (Türkei) und Athen (Griechenland) auf und studierte Malerei an der Mimar Sinan Fine Arts University in Istanbul (Türkei) sowie an der Bologna Fine Arts Academy in Bologna (Italien). Er ist Mitbegründer der Künstlerinitative Sanatorium in Istanbul. Zu seinen Einzelausstellungen gehören: The Ghosts of Matter (MOCAK, Krakau, Polen, 2019); The Pope and Galileo Had a Minor Disagreement (Zilberman, Istanbul, Türkei, 2017); Synesthesia (Zilberman, Istanbul, Türkei, 2015); Extrasystemic Correlations (Zilberman, Istanbul, Türkei, 2012); Default (Sanatorium, Istanbul, Türkei, 2011). Zu seinen Gruppenausstellungen gehören: Restless Monuments (Zilberman, Istanbul, Türkei, 2018); Urban Justice (CerModern, Ankara, Türkei, 2015); Venice Biennial Italian Pavillion (Beteiligung in Istanbul, Italien/Türkei, 2011) und Teatro Comunale (Italien, 2000). Seine Arbeiten befinden sich unter anderem in den Sammlungen des MOCAK – Museum of Contemporary Art in Krakow (Krakau, Polen) und der National Gallery of Victoria (Melbourne, Australien).

Text: Lotte Laub

Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Essays von Didem Yazıcı und Seda Yıldız, einem Gespräch zwischen Christine Nippe und Guido Casaretto sowie einer Einleitung von Lotte Laub.

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: berlin@zilbermangallery.com


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