So flows the tide of things
01/03/2025 - 04/05/2025
Yaşam Şaşmazer
So flows the tide of things
1. März – 4. Mai 2025
Catalogue launch & Exhibition tour
Yasam Şaşmazer & Övül Ö. Durmuşoğlu
Zilberman | Berlin
Schlüterstr. 45, 10707 Berlin, 1st floor
The tour will be held in English.
Zilberman | Berlin freut sich, die Einzelausstellung So flows the tide of things von Yaşam Şaşmazer anzukündigen.
Wie kann die Auflösung von Grenzen – zwischen dem Eigenen und dem Anderen, dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, dem Inneren und dem Äußeren – unser Verständnis von Koexistenz und Verletzlichkeit verändern?
In So flows the tide of things erforscht die Bildhauerin Vorstellungen von Menschsein, die sich von anthropozentrischen Denkmustern lösen, und widmet sich Prozessen der Transformation, Offenheit und des Werdens. Bereits in ihrer Ausstellung either/or (Zilberman | Istanbul, 2021) begann Şaşmazer ihren Skulpturen die menschliche Hülle zu nehmen. Nun werden sie noch fluider für das Andere, entfernen sich zunehmend von menschlichen Körperformen und öffnen sich der Mehrdeutigkeit und dem Potenzial des Unbestimmten.
Die Skulpturen zeichnen sich durch eine Formsprache aus, die von Fragmentierung und fließenden Übergängen geprägt ist: Deformierte Rücken, die sich wie Stoff falten; kniende Unterkörper, die sich nach oben hin öffnen; kreisrund geformte Oberkörper ohne Kopf oder Arme, die auf Podesten ruhen; die Form der Hülle oder des Gehäuses, die auf den Rücken gedreht ihr verletzliches Inneres offenbart. Diese abstrakten, biomorphen Skulpturen entziehen sich der eindeutigen Gewissheit traditioneller Figuration, wobei ihre gewundenen Formen zugleich Schutz, Verwundbarkeit und Unterwerfung evozieren. Fragilität und Vulnerabilität werden oft als Schwäche wahrgenommen, sind aber wesentliche Aspekte des Lebens – dynamische Zustände, die einen Raum für Wachstum, Verbindung und Neuerfindung eröffnen. Sie verweisen auf unsere gegenseitige Abhängigkeit und erinnern daran, dass selbst die stabilsten Strukturen auf fragile Systeme angewiesen sind. Yaşam Şaşmazer versteht Körper nicht als abgeschlossene Entitäten, sondern als durchlässige Gefäße, die Symbiose und Wandel erfahrbar machen – eine Idee, die eng mit dem posthumanistischen Denken verwoben ist. Der Körper, lange als Grenze zwischen dem Ich und seiner Umwelt verstanden, beginnt, sich an seinen Rändern aufzuweichen, verliert seine Einzigartigkeit und wird zum Plural. Risse werden zu Öffnungen, Zwischenräume entstehen, die andere Lebensformen aufnehmen und neue Beziehungen eingehen. In diesem Sinne wird Metamorphose zum Prozess der Annäherung: „Eine Metamorphose durchzumachen bedeutet, im Körper des Anderen ‚Ich‘ sagen zu können“, schreibt der Philosoph Emanuele Coccia, dessen Gedanken einen zentralen Bezugspunkt für Şaşmazers Untersuchungen in dieser Ausstellung bilden.
Während sie in früheren Ausstellungen oft mit Papier arbeitete, setzt Şaşmazer in So flows the tide of things neben weiteren Gussmaterialien vor allem Ton ein – gebrannt und ungebrannt. Zwischen diesen beiden Zuständen lotet Şaşmazer die Spannung zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit aus. Letztlich eine Form von Erde, erinnert uns Ton daran, dass Şaşmazers Skulpturen Teil eines zyklischen Prozesses sind; sie erscheinen in der Ausstellung nicht nur als geformtes Material, sondern auch als ein ortsspezifisches Element im Raum.
Auch ihre Aquarelle, von denen fünf Arbeiten in der Ausstellung zu sehen sind, deuten einen zyklischen Prozess an: Die kreisförmigen, kernartigen Formen suggerieren Anfänge oder Enden und erzeugen mit ihrer Leichtigkeit und Fluidität einen atmosphärischen Kontrast. Die Aquarelle sind – wie die Skulpturen – in warmen organischen Farbtönen gehalten und verweisen auf die Rolle von Erde in Şaşmazers künstlerischer Praxis.
Für die Installation Tides of things I-IV rekonstruiert Yaşam Şaşmazer Teile ihres Ateliers und verwandelt sie in ein raumgreifendes Archiv, das sich über zwei Räume erstreckt. In vier Industrieregalen treten Skulpturen in einen Dialog mit Naturmaterialien wie Moos, Steinen und Ästen sowie mit Fehlgüssen, Gussformen und unfertigen Objekten. Indem Şaşmazer Materialien und Skulpturen nebeneinander präsentiert, lässt sie die Grenzen zwischen Rohmaterial und Kunstwerk verschwimmen und stellt tradierte Werte infrage. Die in die Regale integrierten Glasflächen ermöglichen ungewohnte Einblicke, laden zur Entdeckung des sonst Verborgenen ein und verbinden die verschiedenen Elemente miteinander. Mit Tides of things I-IV hinterfragt Şaşmazer Systeme, die auf Hierarchien und Abgrenzungen beruhen. Sie schlägt einen horizontalen, pluralistischen Ansatz vor und lässt künstlerische Produktion als einen dynamischen Kreislauf erscheinen.
Der Titel der Ausstellung, So flows the tide of things, ist dem Lehrgedicht De rerum natura des römischen Dichters Lukrez entnommen. In seinem poetischen Entwurf einer naturphilosophischen Weltsicht beschreibt Lukrez, so die Künstlerin, Natur nicht als Ansammlung fester Körper, sondern als ein Geflecht aus Strömen, Faltungen und Übergängen. Alles besteht aus winzigen unteilbaren Elementen, die sich stetig zu neuen Konstellationen anordnen, sich auflösen und wieder zu neuen Formen verbinden. Diesen Gedanken greift Şaşmazer in den Arbeiten der Ausstellung auf, die sich weg von einer starren Körperlichkeit hin zu Prozessen und Wesen bewegen, die sich öffnen und immer wieder neu formieren.
Text von Lusin Reinsch
Yaşam Şaşmazer (geb. 1980) lebt und arbeitet in Istanbul. Zu ihren Einzelausstellungen zählen: So flows the tide of things (Zilberman | Berlin, 2025), either/or (Zilberman | Istanbul, 2021), Metanoia (Havremagasinet, Boden, 2017; Torrance Art Museum, Kalifornien, 2016), Dark Matter (Kunstverein Ingolstadt, 2017). Ihre Arbeiten wurden zudem u.a. in folgenden Gruppenausstellungen präsentiert: Distilled From Scattered Blue (Galerist, Istanbul, 2024), Suppose You Are Not (Arter, Istanbul, 2024), Cappadox 2024 (Nevşehir, 2024), Everything will be just like now – just a little different (Künstlerhaus Palais Thurn & Taxis, Bregenz, 2023), In Its Own Shadow (Arter, Istanbul, 2023), Landscapes Florenz & Istanbul (Museum Schloss Moyland, Bedburg-Hau, 2023), Locus Solus (Arter, Istanbul, 2022), Reset.Krise/Chance (Kunstmuseum Ahlen, Ahlen, 2021), At the End of the Day (Odunpazarı Modern Museum, Eskişehir, 2020), Unbreakable: Women in Glass (Fondazione Berengo Art Space, Venedig, 2020), Cappadox 2017 (Nevşehir, 2017) und Confessions of Dangerous Minds (Saatchi Gallery, London, 2011).
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