Swaying the Current

29/11/2024 - 15/02/2025


Swaying the Current
Alpin Arda Bağcık, Aziza Kadyri, İz Öztat, Sandra del Pilar, Neriman Polat, Sim Chi Yin, Cengiz Tekin
Curated by Ece Ateş, Lotte Laub, Lusin Reinsch

Opening: 28 November, 6 – 8:30 p.m.
29 November 2024–15 February 2025

Zilberman | Berlin
Schlüterstr. 45, 10707 Berlin, Take stairs to 1st Floor

Die Ausstellung Swaying the Current versammelt Werke von Alpin Arda Bağcık, Aziza Kadyri, İz Öztat, Sandra del Pilar, Neriman Polat, Sim Chi Yin und Cengiz Tekin – Künstler*innen, die sich mit ihrer Herkunftsgeschichte auseinandersetzen, die sie aus überlieferten Tagebüchern, Familienfotos, Textilien und anderen persönlichen Alltagsgegenständen rekonstruieren oder sich anhand von imaginierten Figuren vorstellen. Dabei schaffen sie Gegennarrative zu offiziellen Diskursen, die jeweils den Interessen der Mächtigen dienen. Sie bedienen sich verschiedener Herangehensweisen wie der critical fabulation: Sie integrieren spekulative und fiktionale Elemente in ihre Arbeiten, um die Gedanken- und Gefühlswelten derer zu erforschen, die im historischen Gedächtnis verdrängt wurden. Der Titel Swaying the Current verweist auf die subtile Kraft, sanft aber entschieden einen Kurs umzulenken.

Sim Chi Yin erzählt die Geschichte von Loo Ngan Yue, ihrer Großmutter, die durch die britische Niederschlagung antikolonialer Kräfte in Malaya zur Witwe wurde – ein zwölfjähriger Konflikt, der später als Modell für westliche Aufstandsbekämpfungskampagnen diente. Sims Großvater, ein Journalist und linker Intellektueller, wurde – wie viele andere Linke und Sympathisant*innen – von den Briten inhaftiert und nach China deportiert, wo er später von der antikommunistischen Armee (Kuomintang) hingerichtet wurde. Sim kontrastiert Freizeitmomente mit mündlichen Erzählungen über das Trauma ihrer Familie und schafft mit fotografischen Mitteln eine filmische Erfahrung. Vor dem Hintergrund des „Malaiischen Notstands“ (1948–1960) zeichnet Sim ein Bild von Angst, Verlust, flüchtigen Momenten der Freude sowie familiärer und historischer Amnesie – und weist damit auf die bleibenden Wunden des Kalten Krieges hin, der die Kluft zwischen Bevölkerungsgruppen vertiefte und zu anhaltenden Konflikten führte, die bis heute nachwirken.

In The Colorado Reminds Me of Syr-Darya reflektiert Aziza Kadyri über Erinnerung, Erbe und die verwobenen Geschichten von Flüssen und Baumwolle über Kontinente hinweg. Ein Tagebucheintrag ihres Großvaters während einer USA-Reise hat sie tief bewegt: „Der Colorado erinnert mich an den Syr Darya.“ Diese Verbindung führt sie zu Parallelen zwischen dem Zentrum des Goldbergbaus in den USA und dem „weißen Gold“ der Baumwolle in Usbekistan, das beide Regionen historisch prägte. Kadyris Großvater wurde während des Kalten Kriegs von der Sowjetunion in die USA entsandt, um die Effizienz von Baumwollentkörnungsmaschinen zu erforschen – eine Erfindung, die den Bedarf an versklavter Arbeitskraft in den USA nicht reduzierte, sondern noch verstärkte. Im Zentrum der Arbeit steht ein rosafarbener Stoff aus Taschkent – ein maschinenbestickter Suzani, der für den 26. Kongress der Kommunistischen Partei gewebt wurde. In ihrer Installation aus schwebenden Textilien und gesprochenem Wort verbindet Kadyri Vergangenheit und Gegenwart durch Flüsse, die zugleich für Fülle und Ausbeutung, die Schönheit der Natur und die Narben der Industrie stehen.

Sandra del Pilar widmet sich der historischen Figur der Malintzin in einem großformatigen, fünfteiligen Paravent, inspiriert von historischen Bildgeschichten. Sie spielte wegen ihrer außergewöhnlichen Sprachkenntnisse – sie beherrschte die Sprache ihres Volkes, das Nahuatl der aztekischen Besatzer, Maya und Spanisch – eine zentrale Rolle bei der Eroberung des Aztektenreiches im 16. Jh. Sandra del Pilars Arbeit beleuchtet die widersprüchlichen Darstellungen und Bedeutungen, die Malintzin in der Geschichte und im kulturellen Gedächtnis Mexikos verkörpert. Während Malintzin in den Texten der spanischen Eroberer als Sklavin und „Zunge“ (Übersetzerin) marginalisiert wird, erkennt del Pilar ihre hervorgehobene Rolle in indigenen bildlichen Darstellungen, wie dem Florentiner Codex oder dem Lienzo de Tlaxcala, wo sie als hochrangige Diplomatin und Anführerin erscheint, die bei Sandra del Pilar für ihre und die Autonomie ihres Volkes kämpft.

Alpin Arda Bağcık greift in seinem Werk eine Ikone aus der Hagia Sophia auf, ein berühmtes Mosaik aus dem 10. Jahrhundert, das die Gottesmutter als Schutzpatronin darstellt. Es wurde nach der Bildersturmperiode im 8. und 9.Jh. erschaffen, als die Verehrung von Ikonen wieder zugelassen wurde. Maria ist zwischen Hagia Sophia und Grabeskirche dargestellt, somit als Schutzpatronin von Konstantinopel und Jerusalem. Seit ihrer Errichtung im Jahr 537 n. Chr. diente die Hagia Sophia über Jahrhunderte hinweg abwechselnd als Kirche, Moschee und Museum und wird seit 2020 erneut als Moschee genutzt. Die Ikone ist nun durch einen Vorhang der Sicht entzogen. In einem beidseitig bemalten Leporello nutzt Bağcık eine spezielle Abklatschtechnik, mit der er die Ikone in mehrfachen, zunehmend verblassenden Wiederholungen zeigt. Die Darstellung reduziert sich bis zu nahezu völligem Verschwinden, während auf der Rückseite die Farben allmählich wieder an Kraft gewinnen. Geschichte verläuft nicht linear, es gibt Wiederholungen, Verdecktes wird wieder sichtbar.

İz Öztat verwendet eine historische Leporello-Karte, die den Verlauf der Donau bis zum Schwarzen Meer zeigt, um die Geschichte von Zişan (1894-1970), die Öztat als Geist und alter ego erscheint, nachzuerzählen: 1915 floh Zişan vor dem Völkermord an den Armenier*innen von Istanbul nach Berlin. Eine rote Linie, wie ein Blutfluss, durchzieht die Galerie und wird dann unterbrochen – wie der zerschnittene Fluss auf den vielen Seiten der militärischen Karte, der İz Öztat den Verlauf entnommen hat. Dieser kollaborative, zeitübergreifende Austausch ermöglicht es, darüber nachzudenken, wie sich eine verleugnete und verdrängte Vergangenheit in der Gegenwart bemerkbar macht. Unter dem Titel Danube as Biography: Reduced and Simplified beschäftigt sich die Arbeit, die von zwei Publikationen begleitet wird, mit der Frage, wie jede Erzählung einer Lebensgeschichte immer konstruiert ist und wie diese (auto-)biografischen Erzählungen Lebenswege verändern. In ihrer Arbeit Screens verbindet die Künstlerin das Fenster eines Beichtstuhls mit dem architektonischen Element der Mashrabiya, ein wiederkehrendes Motiv in orientalistischen Darstellungen. Indem sie die Projektionsflächen zwischen dem Selbst und dem Anderen hinterfragt, reflektiert Öztat die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre und beleuchtet, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird und was ihr verborgen bleibt.

Neriman Polats Installation Elbise (Kleid) zeigt eindrücklich die Folgen geschlechtsspezifischer und staatlicher Gewalt. Im hinteren Raum der Ausstellung hängt ein geblümtes Kleid, das geisterhaft den Körper suggeriert, den es einst umhüllte. Was auf den ersten Blick wie ein regelmäßiges Muster erscheint, verwandelt sich bei näherer Betrachtung in ein Muster aus Leerstellen, in denen einst Blumen standen, die von Polats Hand akribisch ausgebleicht wurden. Aus dem Gewand erklingt ein Klagelied, das sich seinen Weg durch die Galerieräume bahnt. Ursprünglich von Metin und Kemal Kahraman gesungen, lässt Polat das Lied von Gökçe Balkan, einer Frauenstimme singen. Es evoziert den Schmerz und die Sprachlosigkeit gegenüber der Gewalt, die oftmals verschwiegen oder verdrängt wird. Die Arbeit entstand zu einer Zeit massiver Repression und Gewalt in der kurdischen Region, als staatliche Einsätze viele unschuldige Opfer forderten und selbst das Recht auf Bestattung verweigert wurde. Polats Elbise erinnert an alle Frauen, die durch misogyne Gewalt aus dem Leben gerissen wurden und gibt ihnen, die sprachlos vor der Gewalt waren, wieder eine Stimme.

Cengiz Tekin setzt sich in seiner Arbeit Silence mit Themen wie Zuflucht und Abgeschiedenheit inmitten von Konflikten und Krisen auseinander und stellt das Zuhause als Schutzraum vor dem äußeren Chaos dar. Seine Graphitzeichnungen rücken Objekte aus seiner häuslichen Umgebung in den Fokus, mit denen Tekin persönliche Geschichten und Erinnerungen verbindet, während sie zugleich auf universelle Themen verweisen. Sie zeigen ein Bild seiner Mutter, das hinter einem Lichtschalter festgeklemmt ist, eine bestickte Korantasche und eine Gebetskette, die an einem Haken an der Wand hängt, aber auch alltägliche Gebrauchsgegenstände wie eine Plastiktüte, oder einen Nagel an einer Wand neben einem Gewehr. Diese Objekte stehen einerseits für die Zerbrechlichkeit und den Rückzug in den privaten Raum und schaffen eine stille, beruhigende Atmosphäre. Andererseits spiegeln sie die von sozialen und politischen Unruhen geprägte Zeit in seiner Heimatstadt Diyarbakır wider –wiederkehrende Konflikte, Ausgangssperren, die zu Isolation führen, und deren Auswirkungen auf Individuen und Gemeinschaften. Silence verleiht nicht nur der Ohnmacht und Zerbrechlichkeit Ausdruck, sondern auch der Resilienz der betroffenen Gemeinschaften.

Wenn wir der geschwungen, fragmentierten roten Linie folgen, auf die Zeichnungen von Cengiz Tekin blicken, das Kleid von Neriman Polat betrachten, wenn wir den Gesang anhören, dann erreichen uns diejenigen, die nicht betrauert wurden, die aus der Geschichte gedrängt wurden. Die Leere, die sie hinterlassen haben, wird hier von den Künstler*innen mit Spuren ihrer Existenz neu erfüllt. Existentiell Wichtiges ist zu überliefern: Geschichte ist nicht nur aus einer Perspektive zu betrachten. Ereignisse gegen die herrschende Richtung wahrzunehmen, ist notwendig, Hoffnung auf Richtungsänderungen in widrigen Zeiten ist nicht illusionär. Swaying the Current lädt dazu ein, die verwobenen Muster von Erinnerung, Geschichte und Identität zu erkunden und eröffnet zugleich einen Einblick, wie vermeintlich verlorene und vergessene Fäden in das Gewebe unseres Lebens eingeflochten sind.

Ah Ma: On family memory and trauma
Sim Chi Yin und Tash Aw im Gespräch
Samstag, den 07.12.2024, 17 Uhr

Wie kann über das jahrzehntelange Schweigen in der Familie gesprochen werden? Wer darf für wen sprechen? Gibt es Ausgelöschtes und Verschwiegenes, das besser unangetastet bleibt oder sollte es beharrlich ausgegraben werden? Die singapurische Künstlerin Sim Chi Yin und der malaysische Schriftsteller Tash Aw haben beide Familienmemoiren verfasst und veröffentlicht, die sich aber in ihren Herangehensweisen unterscheiden. Sie werden über ihre Bücher She Never Rode That Trishaw Again und Strangers On A Pier sprechen, über ihre jeweiligen Ansätze sowie die unterschiedlichen Formen der Übersetzung ihrer Familiengeschichten und transgenerationalen Traumata. Sie werden darüber diskutieren, warum und inwieweit Mikronarrative wichtig sind und was uns erhalten bleibt.

Das Gespräch wird auf Englisch geführt. 

Weitere Veranstaltungen:
Zilberman Afternoon Tours:
Samstag, den 7. Dezember 2024, um 16 Uhr
Samstag, den 4. Januar 2025, um 16 Uhr
Samstag, den 1. Februar 2025, um 16 Uhr

Zilberman | Berlin bietet an jedem ersten Samstag im Monat um 16 Uhr geführte Ausstellungsrundgänge an. 
Um an den Führungen teilzunehmen, melden Sie sich bitte an unter: berlin@zilbermangallery.com.


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