Groundless
02/12/2025 - 07/02/2026
Neriman Polat
Groundless
Opening: 29 November 2025
02 December 2025 – 07 February 2026
Zilberman | Berlin freut sich, die Soloausstellung Groundless von Neriman Polat anzukündigen. Nach Merciless (2018) und Roofless (2023) folgt mit Groundless der dritte Teil ihrer Ausstellungstrilogie, deren gemeinsames Suffix – less – jeweils ein Fehlen beschreibt: ohne Gnade, ohne Dach, ohne Boden. Neriman Polat untersucht in dieser Reihe den fortschreitenden Verlust von Schutz, Struktur und Halt – körperlich, gesellschaftlich, juristisch und existenziell. Ihre Arbeiten erzählen von Freiheit und deren Gefährdung, von brüchigen Fundamenten, von Ungleichheit, Demokratie und dem Versuch, inmitten ökologischer und ökonomischer Krisen neuen Boden zu gewinnen.
Neriman Polat ist seit den 1990er-Jahren in kollaborativen Zusammenhängen aktiv – zunächst in der Gruppe Sanat Tanımı Topluluğu (STT), später als Mitbegründerin der Künstlerinnengruppe Arada („Dazwischen“, mit Gül Ilgaz, Nancy Atakan und Gülçin Aksoy). Sie war außerdem Mitglied des Kollektivs Hafriyat, ein Begriff aus der Bauindustrie, der „Ausschachtung“ bedeutet und auf Prozesse des Freilegens verweist. Auch in Groundless knüpft Polat an die Praxis kollektiven Handelns an. Der Titel beschreibt nicht nur das Fehlen von Boden, sondern auch den Verlust einer gemeinsamen Grundlage – eines common ground. Kollektives Arbeiten, geteilte Verantwortung und die Suche nach neuen Formen von Gemeinschaft prägen ihre künstlerische Praxis.
In Groundless sind die Wände betongrau, als hätte sich das Äußere in den Innenraum verlagert. An einer Wand ragt ein Balkon hervor, ein Schwellenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Der Balkon verbindet Haus und Straße, Intimität und Gemeinschaft, und verweist auf das riskante Heraustreten ins Offene, auf den Schritt auf unsicheren Boden. Vom Geländer hängt ein Stoff mit Rosenmuster herab, eine alltägliche Szene, die sich in mehreren Fotografien der Ausstellung wiederfindet. Dort besteht das Textil aus Tüll, einem lichtdurchlässigen Material, das zugleich vor Einblicken schützt. Bei Polat erhält es eine neue Bedeutung: Das Innere kehrt sich nach außen und wird sichtbar. Durch die Schwarz- und Graufärbung des Textils wandelt sich das romantische Rosenmotiv zu einem Sinnbild von Verlust, Gewalt und Erinnerung. In Polats Arbeiten Rose und Kaybolan steht es für ermordete Frauen – als Ausdruck von Trauer, aber auch von Beharrlichkeit und Hoffnung. Nach außen gehängt erscheint die Rose als widerständiges Zeichen weiblicher Handlungsmacht, als stilles Denkmal für ausgelöschte Leben und zum Schweigen gebrachte Stimmen.
Auf einem der Tüllstoffe ist die Zeile “sel gizli gizli, yol gizli gizli, dil gizli gizli” (heimlich die Flut, heimlich der Weg, heimlich die Sprache) zu lesen – in Anlehnung an das Volkslied Gönül Dağı von Neşet Ertaş (1938–2012), einem der letzten Vertreter der anatolischen Abdal-Musikertradition, die eng mit der alevitisch-bektaschitischen Dichtung und Musik verbunden ist. Polat erweitert den Vers um „yas gizli gizli“ – „heimlich, heimlich die Trauer“. Der wiederkehrende Rhythmus des gizli – „heimlich“ – evoziert das Verborgene und Unausgesprochene, das Polats Arbeiten durchzieht. Auch hier wird das Verborgene nicht enthüllt, sondern durchscheinend gemacht – als leises Echo von Verlust, Erinnerung und Zärtlichkeit.
Das Motiv der Schwelle erscheint erneut in der Fotografie Kayıp. Eine rote Kinderjacke hängt an einem Ast, der über eine Mauer in den Nachbarhof hinüberragt, in den wir Einblick haben, begrenzt von hohen Mauern und den rückwärtigen Fassaden mit geschlossenen Balkonen und verglasten Erkern. Die leuchtend rote Daunenjacke, die einst wärmte, ruft das Gefühl von Nähe und Berührung wach. Der Zweig, der sie trägt, scheint sich vorsichtig hinüberzutasten – eine stille Geste der Fürsorge inmitten von Trennung und Stillstand. Auch dieses Bild verweist auf den Versuch, Verbindung zu halten, wo Grenzen unüberwindbar erscheinen.
Viele der Stoffe, die Polat in Groundless verwendet, stammen von Märkten – industriell gefertigte, weltweit verbreitete Materialien, die Behaglichkeit und Glück versprechen und dabei ihre eigene Leere verraten. Durch Nähen, Übermalen und Verdunkeln verwandelt Polat sie in Träger von gelebter Erfahrung. Das Verdunkeln, so die Künstlerin, sei zugleich ein Offenlegen. In Arbeiten wie O Freedom oder Open Visit erinnern übermalte Gittermuster an Fenster, aber auch an Zellen – Bilder von Isolation, aber auch von Gemeinschaft: jedes Feld für sich, und doch in der Gesamtheit verbunden. Andere Werke verweisen auf ökologische und ökonomische Brüche. In Döşemelik fällt eine fast fünf Meter lange, schwarz übermalte Stoffbahn von der Wand herab in den Raum – ein Bild für das Absinken des Bodens, für den Verlust von Halt und Lebensgrundlagen. In Kırık übersetzt Polat die Adern eines marmorierten Stoffes in dunkle Linien: Trockenheit, Risse, die Spur einer Erde, die zu zerfallen droht. Die Bilder von Dürre, Wasserknappheit, Waldbränden und Erdbeben stehen für eine Landschaft im Ausnahmezustand. A Fall of the Net Bag und Two Handkerchiefs greifen alltägliche Stoffe auf – Einkaufsnetze, Taschentücher, Textilien des Gebrauchs. Sie verweisen auf ökonomische Ungleichheit, auf menschliche Nähe und materielle Krisen und tragen Spuren stiller Formen des Widerstands.
In On the Road verkörpert Polat selbst den Sensenmann, eine weibliche Figur des Todes, die durch eine weite, karge, fast mythisch anmutende Landschaft im Westen Anatoliens wandert. Aus der Distanz sehen wir sie auf uns zukommen, begleitet vom eindringlichen Sirren der Zikaden, laut wie die Rachegöttinnen. Der Tod erscheint hier als Gestalt der Vergeltung und der Wiederkehr in einer Landschaft, die zugleich Erinnerung und Vorahnung ist, heimgesucht von den Geistern vergangener und kommender Ungerechtigkeit.
In ihren Arbeiten setzt sich Neriman Polat mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Geschlechterrollen und den Bedingungen des Sichtbaren auseinander. Sie legt frei, wie sich Gewalt, Verlust und Erinnerung in materiellen Überlieferungen und häuslichen Oberflächen einschreiben und wandelt diese Spuren der Verletzlichkeit in Momente des Widerstands. Ihre Praxis bewegt sich zwischen Fürsorge und Genauigkeit, getragen von Empathie und dem Bestreben, gemeinschaftliche Formen von Verantwortung erfahrbar zu machen.
Text: Lotte Laub
Neriman Polat (geb. 1968 in Istanbul, lebt und arbeitet ebendort) studierte Malerei an der Mimar-Sinan-Universität für Schöne Künste. Sie war Mitglied des Kollektivs Hafriyat (2000–2009) und zählt zu den prägenden Stimmen der zeitgenössischen Kunst in der Türkei. Ihre Arbeiten wurden international in Museen und Institutionen gezeigt, darunter SALT Beyoğlu (Istanbul), Depo (Istanbul), Istanbul Modern, ifa-Galerie Stuttgart, die Akademie der Künste (Berlin) und das Künstlerhaus Palais Thurn und Taxis (Bregenz). Sie nahm an zahlreichen Biennalen teil, darunter der 6. Istanbul Biennale (1999), dem türkischen Pavillon der 50. Biennale von Venedig (2003), der 10. Istanbul Biennale (2007) und der 1. Turkish Textile Biennial (2023). Zu ihren Einzelausstellungen zählen Roofless (Zilberman, Istanbul, 2023), Breaking the Seal: A Selection 1996–2019 (Depo, Istanbul, 2019), Merciless (Merdiven Art Space, Istanbul, 2018) und Threshold (Disambigua Art Space, Viterbo, 2015). Polats Praxis bewegt sich zwischen Fotografie, Video, Installation und Textilarbeit und thematisiert Fragen von Raum, Geschlecht, Urbanität und Erinnerung.
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