One Day We’ll Understand
14/09/2021 - 27/11/2021
Zilberman | Berlin freut sich, die Soloausstellung One Day We’ll Understand der Künstlerin Sim Chi Yin anzukündigen.
Zwei revolutionäre Lieder, Die Internationale und Goodbye Malaya – das eine vermittelt Aufbruchstimmung, das andere Verlust – verknüpft die Künstlerin Sim Chi Yin zu der Videoinstallation Requiem. Es sind die Stimmen von ehemaligen Deportierten und Exilanten, von denen manche bis heute nicht nach Malaysia zurückkehren dürfen. Der Klang ihrer brüchigen Stimmen, die den Text manchmal vergessen, legt sich über die Ausstellung One Day We’ll Understand in der Zilberman Galerie. Diese schwebenden Stimmen, die von einem Gefühl des Verlusts überschattet werden, hallen nach, wenn wir die Landschaftsaufnahmen betrachten, die die Künstlerin von Erinnerungsorten und ehemaligen Kriegsschauplätzen im heutigen Malaysia und Süd-Thailand fotografiert hat. In einer nächtlichen Szene erscheint ein Elephant aus dem Dschungeldickicht, die Momentaufnahme eines Wesens, das durch die Bewegungsunschärfe wie eine geisterhafte Erscheinung wirkt. Ein Tisch mit leeren Stühlen lässt vermuten, dass eine heimliche Versammlung soeben aufgelöst wurde – oder deutet auf die Abwesenheit der damaligen antikolonialen Kämpfer respektive Vertriebenen und Getöteten hin, die bis heute nicht gesühnt sind, während man der britischen und Commonwealth-Soldaten auf Heldenfriedhöfen gedenkt.
Sim Chi Yins Ausstellung One Day We’ll Understand befragt die kolonialen und postkolonialen Darstellungen des zwölfjährigen Guerillakriegs in Britisch-Malaya, dem heutigen Gebiet von Malaysia und Singapur, von der britischen Kolonialmacht euphemistisch als „Malayan Emergency“ (1948–1960) bezeichnet. Die Kommunisten, die im Zweiten Weltkrieg den Widerstand gegen Japan angeführt hatten, standen nun an der Spitze der antikolonialen Kräfte. Es war einer der frühen heißen Konflikte im globalen Kalten Krieg, in denen Strategien zur Bevölkerungskontrolle und das chemische Entlaubungsmittel Agent Orange Jahre vor dem Vietnamkrieg zum Einsatz kamen. Die britischen Behörden versuchten, den Widerstand durch Verhaftungen, Deportationen und die Umsiedlung von Zivilisten aus den Randgebieten des Dschungels in sogenannte ‚Neue Dörfer‘ zu brechen, um den Nachschub an Lebensmitteln, Medikamenten und potenziellen Kämpfern an die kommunistischen Insurgenten abzuschneiden.
One Day We’ll Understand basiert auf Sim Chi Yins Familiengeschichte, der Geschichte ihres Großvaters, einem Journalisten und linken Intellektuellen. Wie weitere 31.000 Kommunisten und Sympathisanten wurde er von den britischen Behörden inhaftiert und nach China deportiert, wo er später von der nationalistischen Kuomintang-Regierung exekutiert wurde. Von dieser persönlichen Geschichte ausgehend, weitet Sim ihre Recherche auf eine historische und künstlerische Aufarbeitung der offiziellen und kolonialen Darstellungen des Krieges und seiner Kämpfer aus.
In ihrer jüngsten Serie Interventions setzt sich Sim Chi Yin mit Aufnahmen aus dem kolonialen Archiv des Imperial War Museum in London auseinander, die von den britischen Behörden für Medienkampagnen und psychologische Kriegsführung eingesetzt worden waren, um staatliche Militäroperationen gegen antikoloniale Kämpfer zu legitimieren. Sim hat diese Aufnahmen auf einem Leuchttisch abfotografiert, so dass die sonst auf der Rückseite verborgenen Markierungen und Beschriftungen palimpsestartig durch das Bild auf der Vorderseite scheinen. Die Transparenz der Foliendrucke auf Glasplatten ermöglicht die Betrachtung von zwei Seiten, wobei entweder Text oder Bild spiegelverkehrt erscheinen. Wer hat die Definitionsmacht? Sim hinterfragt die Indexikalität materialer Beweise, indem sie die Mechanismen der kolonialen Deutungshoheit offenlegt. Eine Aufnahme zeigt einen Hubschrauber, von dem sich ein britischer Soldat in das Dschungelgebiet abseilt, eine andere eine Kautschukplantage; dort sind die Zapfstellen mit weißen Tüchern umwickelt – ein Hinweis an die Arbeiter, sich nicht in den Dienst der britischen Kautschuk-Exporteure zu stellen. Eine weitere Aufnahme zeigt Häftlinge auf dem Boden einer Polizeistation hockend. Durch das Blatt scheint die Beschriftung der Rückseite „Banditen“; so wurden Aufständische kriminalisiert. Die Umrisse der Figuren sind zu Veröffentlichungszwecken in der Presse teils nachgezogen. Heute sind die antikolonialen Kämpfer in Malaysia und Singapur immer noch ein Tabu, das an die Art und Weise erinnert, wie die britischen Behörden sie als Banditen oder kommunistische Terroristen diffamierten und sie auf Propagandabildern, Fahndungslisten oder Listen von Deportierten oder Exilanten archivierten. Doch paradoxerweise war es gerade dieser Kontakt mit der Kolonialmacht, der sie in der Geschichte bewahrte und eine unbehagliche Dynamik schuf, in der die Besiegten nur durch den Blick der Sieger in Erinnerung blieben – ein Zusammenhang, den Sim in ihrer Arbeit dekonstruiert.
Die Vielstimmigkeit aus historischen Briefen beider Seiten und der Aussagen von Zeitzeugen geben Einblick in Sim Chi Yins Recherchen. Letztere bilden ein Gegenarchiv zu den Darstellungen der offiziellen Archive, für die sie über dreißig Deportierte und Exilanten in vier Ländern interviewt hat. Sim hat sie zu ihren Erfahrungen als Vertriebene und ihrem späteren Ergehen befragt. Abfotografierte Objekte, wie ein Minensuchgerät und eine Beinprothese, die die Überlebenden während der Interviews als Erinnerungsstücke oder Beweisstücke der Künstlerin Sim Chi Yin vorlegten, sind Teil ihres Gegenarchivs. Es sind materiale Zeugen der Geschichte.
Sim Chi Yin (geb. 1978 in Singapur, lebt seit 2021 in Berlin) wurde 2017 ausgewählt für die Friedensnobelpreis-Ausstellung im Nobel-Peace-Center-Museum in Oslo und 2020 für den Jane Lombard Prize for Art and Social Justice des Vera List Center nominiert. Sie ist seit 2018 nominiertes Mitglied bei Magnum Photos. 2021 erschien ihr Fotobuch She Never Rode That Trishaw Again, das erste in einer Reihe zu ihrem mehrteiligen Projekt One Day We’ll Understand, zu dem sie außerdem performative readings entwickelte. Zu ihren vorangegangenen Projekten zählen Shifting Sands über die weltweite Verknappung von Sand, vorangetrieben durch schnelle Urbanisierung und Landgewinnung, sowie Most People Were Silent, für das sie eine Serie von Diptychen von Landschaften mit nuklearen Atomanlagen an der Grenze zwischen Nordkorea und China sowie in den USA, in Nord-Dakota nahe der kanadischen Grenze, schuf. Sim präsentierte zuletzt Soloausstellungen bei den Rencontres de la photographie d‘Arles (2021), Landskrona Foto Festival, Schweden (2020), Hanart TZ Gallery, Hong Kong (2019), dem Institute of Contemporary Arts, LASALLE College of the Arts, Singapur (2018). Ihre Arbeiten wurden ferner auf der Guangzhou Image Triennial (2021) und der 15. Istanbul Biennale, Türkei (2017) gezeigt.
Text: Lotte Laub
Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Gesprächen zwischen Sim Chi Yin und Maaza Mengiste sowie mit Hilary Roberts, außerdem ein Essay von Sam I-shan und eine Einleitung von Lotte Laub.
Anlässlich der Eröffnung sprechen Sim Chi Yin und Maaza Mengiste, 2020 Booker-Prize-Finalistin für den Roman The Shadow King, über One Day We’ll Understand, ihr Fotobuch She Never Rode That Trishaw Again und die Überschneidungen von kolonialen/vernakulären Archiven, Erzählungen und Erinnerungsdiskursen.
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: berlin@zilbermangallery.com
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