Pressemitteilung - Transit
29/04/2023 - 29/07/2023
Zilberman | Berlin freut sich, ihre neuen Räume in der Schlüterstraße 45 mit der Ausstellung Transit zu eröffnen. Transit versammelt Werke von Yane Calovski & Hristina Ivanoska, Antje Engelmann, Memed Erdener, Hanna Frenzel, Itamar Gov, Fatoş İrwen, İz Öztat & Zişan & BAÇOY KOOP, Judith Raum, Sim Chi Yin und Annette Weisser und wird von Lotte Laub & Susanne Weiß kuratiert.
“O imperial City,” I cried out, “City fortified, City of the great king, tabernacle of the most High, praise and song of his servants and beloved refuge for strangers, queen of the queens of cities, song of songs and splendor of splendors, and the rarest vision of the rare wonders of the world, who is it that has torn us away from thee like darling children from their adoring mother? What shall become of us?“
Mit diesen Zeilen beklagt der byzantinische Historiker Niketas Choniates 1204 die verheerende Eroberung und Plünderung Konstantinopels im vierten Kreuzzug. Er selbst hat nicht mehr erfahren, dass Istanbul später im Osmanischen Reich erst recht zur Zuflucht aller Fremden wurde, bis sich das Blatt im 20. Jahrhundert wenden sollte. Mit der Gründung des modernen türkischen Nationalstaates kommt es zu erzwungenen demographischen Einbrüchen durch gewaltsame kollektive Vertreibungen. REFUGE OF ALL STRANGERS lautet der Titel der Installation von Itamar Gov, der als Leuchtschrift auf einem Gerüst angebracht ist, wie man es von alten Hotelschildern kennt, die auf Dächern Orientierung und Versprechen zugleich lieferten. Govs Leuchtschrift bleibt ambivalent: sie verdeutlicht die Kluft zwischen dem Versprechen einer Zuflucht für alle Fremden und dem Zustand des Fremdseins in der (Zu)flucht. Sie kann aber auch als Einladung verstanden werden, die Kunst als den rettenden Ort wahrzunehmen, an dem Verlorenes, Vergessenes, Verschwiegenes für die nachfolgenden Generationen aufgehoben ist.
In Bogotà fand Heinz Rewald vor der nationalsozialistischen Verfolgung Zuflucht, der nach seiner Rückkehr nach Berlin als Hommage auf seinen Zufluchtsort 1964 das Hotel Bogota in der Schlüterstraße 45 gründete. 1976 wurde es von der Familie Rissmann übernommen und bis 2013 von Sohn Joachim Rissmann geführt, der in der Ausstellung Archivalien zur Geschichte des Hauses zeigt. Itamar Govs Arbeit findet ihr Echo in eben dieser Geschichte, aber auch in der Tatsache, dass der Kaufmann M Nedim, der ab 1921 als Eigentümer und Bewohner des ursprünglichen Wohnhauses eingeschrieben ist, 1922 nach Konstantinopel übersiedelte.
In den 1930er Jahren befand sich in diesem Gebäude das Fotostudio der damals erfolgreichen Modefotografin Yva (Else Ernestine Neuländer). In der Ausstellung werden mehrere Fotografien von Yva aus der Privatsammlung von Joachim Rissmann gezeigt. Ab 1938 erhielt die jüdische Fotografin durch die Nationalsozialisten Berufsverbot, 1942 wurden sie und ihr Mann von der Gestapo verhaftet, in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und in Majdanek ermordet. Das Haus wurde 1942 enteignet, die Reichskulturkammer zog ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die britische Besatzungsbehörde im Haus eine Entnazifizierungseinrichtung ein, und später wurde die Kammer der Kulturschaffenden gegründet, die 1945 die erste Kunstausstellung mit verfemten Werken nach dem Krieg organisierte.
Anna Seghers schrieb ihren Roman Transit auf der Flucht vor dem drohenden Zugriff der Nazis und vollendete ihn im Exil in Mexiko. „Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“ Transit verweist zum einen im Kontext des Exils auf das erforderliche Transitvisum, zum anderen auf das Durchgangsstadium, in dem sich die Flüchtlinge befanden, zugleich auf das Transitorische, immerzu Gefährdete der menschlichen Existenz. Es geht um die transgenerationale Weitergabe von Erlebtem; das Abwesende wird in den Arbeiten spür- bzw. greifbar gemacht.
Sim Chi Yin erforscht die Lebensgeschichte ihres totgeschwiegenen Großvaters. Als linker Journalist und antikolonialer Aktivist im Befreiungskrieg in British Malaya wurde er 1949 von den Briten nach China, seinem ursprünglichen Herkunftsland, deportiert und dort von den Kuomintang ermordet, kurz bevor die Kommunisten die Macht ergriffen. Sim entreißt die in ihrer Familie unterdrückte Geschichte der Vergessenheit, um sie ihrem kleinen Sohn überliefern zu können. In einer Doppelkanalvideoinstallation verfolgt die Künstlerin den Weg des Großvaters in die Verbannung, und zum anderen seinen Ausgangspunkt in China. Gezeigt wird die Einfahrt in einen Tunnel, der so auch als Zeittunnel verstanden werden kann.
Auch Fatoş İrwen geht den Spuren ihres Großvaters nach, indem sie sein mittlerweile verfallenes Haus in der umkämpften Stadt Diyarbakir in der Türkei aufsucht. Ein aufgeschlagenes Buch, in dem der Wind blättert, gibt Zeugnis von einem Gelehrtenleben. 2017 wurde Fatoş İrwen ohne nennenswerte Beweise im Rahmen der weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert, wie viele andere Kurd:innen und Oppositionelle. Im Gefängnis hat sie Arbeiten aus Papier geschaffen, mit Tee hautfarben gefärbt, und Risse mit Frauenhaar zugenäht, so dass sich der Eindruck von genähten Wunden einstellt, oszillierend zwischen erlebter Gewalt und Selbstheilungsversuch.
Zişan (1894–1970), die İz Öztat als Geist und Alter Ego erscheint, floh 1915 von Istanbul nach Berlin und kehrt in die Gegenwart zurück, um die Leugnung des Völkermords an den Armeniern zu thematisieren. Zişans Arbeit Felaket ist auf das Jahr 1923 datiert, das Gründungsjahr der Republik Türkei, das den Anfang eines katastrophenreichen Jahrhunderts markiert. Um der Unmöglichkeit zu begegnen, ein Jahrhundert systematischer staatlicher Gewalt darzustellen und zu betrauern, greift Öztat auf geometrische Abstraktionen zurück. Zişans Katastrophe, repräsentiert durch ein schwarzes Quadrat, wird zum Ausgangspunkt für ihre Installation mit dem Titel After. Rote Dreiecke enthalten schwarze Quadrate und stehen nebeneinander. Sie verweisen auf kollektive Aktionen, die Gerechtigkeit für das gewaltsame Verschwindenlassen fordern. Öztats In-Situ-Installation enthält unter anderem eine Reihe von Drucken, die von BAÇOY KOOP kollektiv produziert wurden. Das Format und die Bilder beziehen sich auf die als Birding bezeichnete Praxis des Verteilens von Flugblättern mit regimekritischen Inhalten. Über einer großen Menschenmenge in die Luft geworfen, werden die Flugblätter wie ein Vogelschwarm zerstreut, und die Autor:in bleibt unerkannt. Das Werk inszeniert poetisch die Sehnsucht nach Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum.
Memed Erdeners Some Days Were Missing Last Year (2015), bestehend aus 33 Damenschuhen und einem Polizeischlagstock, erinnert ebenfalls an die staatliche Gewalt und das stetige Mahnen durch die „Samstagsmütter“ in der Türkei nach dem Militärputsch 1980. In einem Manifest, das der Künstler 2012 unter seinem Pseudonym Extramücadele (Extrastruggle) veröffentlichte, träumt er von einem Land, in dem Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit herrschen. Erdeners Kritik bezieht sich auf alle Unterdrückungsmechanismen, sowohl in der Geschichte wie in der Gegenwart: Jede Herrschaft von Menschen über andere Menschen ist dazu verdammt, in Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung zu enden. Daher sei der Kampf nicht nach außen (Extrastruggle), sondern inwendig (Intrastruggle) zu führen. Erdener hat 2018 während seiner Künstlerresidenz in der Galerie Zilberman eine Serie von Zeichnungen geschaffen, die sich in kalligraphischer Manier mit den Namenszügen von Kulturschaffenden beschäftigen, die in der Türkei inhaftiert wurden, darunter auch Fatoş İrwen und der Menschenrechtsaktivist und Kulturmäzen Osman Kavala. Die Buchstaben, in Bilder verwandelt, erinnern an mittelalterliche Stundenbücher und regen zur Entzifferung einer verborgenen Botschaft an.
Gleich im ersten Ausstellungsraum, selbst ein Durchgangsraum, ist eine Garderobensituation simuliert. Kleidungsstücke aus rohem Wollstoff hängen nebeneinander an Haken. Wayside (Antoinette van Eyck's Collection of Garments), so der Titel der Installation des Künstlerpaares Yane Calovski und Hristina Ivanoska, die sich in ihrer Arbeit oft mit am Wegesrand der Geschichte liegengebliebenen Vorkommnissen widmen. Im Schnittmusterbuch von Antoinette van Eyck von 1935 fanden sie am Ende die bedeutsame Notiz: „Jetzt ist es genug“. Das zeigte ihnen die jugendliche Ungeduld oder den Frust einer offensichtlich begabten, aber sozial benachteiligten Schneiderschülerin. Ihre an die moderne Frau gerichteten Schnitte haben die beiden Künstler überdimensioniert umgesetzt und damit der Zeit und Mode enthoben. Der von ihnen verwendete Stoff markiert ebenso das Ende einer Ära. Das Gewebe, eigentlich für das Gehen von Teig verwendet, stammt aus der ehemaligen Textilfabrik Teteks, die in der sozialistischen Ära Mazedoniens das wirtschaftliche Einkommen der Bevölkerung in Tetovo sicherte.
Ein weiterer Aspekt des Transitorischen ist das Liminale – ein Schwellenzustand, den wir in der Ausstellung in der Überschreitung der Mensch-Tier-Grenze finden, wie bei Judith Raum, oder in den Metamorphosen gewohnter Dinge in surrealen Zusammenstellungen wie bei Mehmed Erdeners Rind and Zahid oder Antje Engelmanns Die große Mutter, oder Annette Weissers Installation, die die Passage des Aufbegehrens von der Kindheit zur Adoleszenz thematisiert.
Judith Raums vier gleichnamige Buntstiftzeichnungen greifen Motive aus dem 1965 erschienen Roman Iguana der italienischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese (1914–1988) auf und zeigen eine Choreographie des Begehrens. Im Roman verbindet Ortese Fragestellungen aus ökologischen Diskursen mit dem Entwurf einer Normen sprengenden Sexualität. Iguana beschreibt eingehend das verletzliche Wesen einer Echsenfrau, die auf der bislang nicht kartografierten Insel Ocaña in einem sklavenhaften Verhältnis lebt und sich dennoch in Widerständigkeit erprobt. Das Begehren eines reichen Conte, der beschließt, Iguana durch den Freikauf aus ihrem Sklavendasein zu erlösen, wird im Buch zur Metapher für den Verlust natürlicher Wechselwirkungen zwischen Tier und Mensch, die im 20. Jahrhundert sukzessive pervertiert wurden, und zu einer Reflexion über erweiterte Formen von Erotik und Liebe. In den großformatigen Zeichnungen verstärkt Raums luzider Farbauftrag die Ambiguität des Themas und den fabelähnlichen Charakter der literarischen Vorlage.
Klischees dienen sowohl als Druckstöcke, als auch als tradierte Vorstellungen, nach denen wir unsere Gesellschaft ausrichten. Die damit einhergehenden Bilder zerlegt Antje Engelmann mit verschiedenen Medien – vom Video zur Fotografie und Collage zur Performance – feinsäuberlich in ihre Einzelteile. Im Mittelpunkt ihrer humorvollen und schonungslosen Untersuchungen steht die Frage inwieweit sich in ihrer donauschwäbischen Familie unverarbeitete Traumata von Flucht und Vertreibung, über die vier Generationen hinweg vererbt haben. Mit ihrer Arbeit Die große Mutter adressiert sie auf den ersten Blick unser ikonographisches Madonnen Verständnis von Reinheit und Unbeflecktheit. Indem sie aber den gemeinsam gezogenen Strudelteig über ihre Tante Renate legt, gehen Traditionen und Körper eine enge materielle Beziehung miteinander ein. Die durchlässige Schicht wird zur brüchigen zweiten Haut, die kaum Raum zum Atmen lässt. Damit widerspricht Engelmann dem in seiner Komplexität verkürzten Madonnenmotiv und führt Fragen nach Scham und Schuld in direkter Linie in ihre Familie zurück.
Im Salzbergwerk Asse steht die Performancekünstlerin Hanna Frenzel in einer Plexiglasröhre und lässt sich bis zum Hals mit Salz zuschütten, sie erstarrt buchstäblich zur Salzsäule. Im Gegensatz zu einer Sanduhr fließt das Salz nur langsam und unmerklich wieder ab. Frenzels Film Chronos zeigt diese Performance, die 500 Meter unter der Erde in einem Salzkammergewölbe stattgefunden hat, das seit 1995 als Atommüllendlager dient. Durch ihre Performance aktualisiert Frenzel die Geschichte der Rettung von Lots Familie vor dem Untergang der sündigen Städte Sodom und Gomorrha unter der Bedingung, dass sie sich auf der Flucht nicht umsehen dürfen. Als Lots Frau doch zurückblickt, erstarrt sie zur Salzsäule. Ein Wechsel von Bedrängnis und Befreiung charakterisiert die Menschheitsgeschichte oder auch: ein Aushalten von Bedrängnis kann Befreiung ermöglichen.
Das Motiv des Aushaltens innerhalb von gesellschaftlichen Konventionen beschäftigt auch Annette Weisser in ihrer künstlerischen Praxis. Eine wiederkehrende Figur in ihrem Werk ist das brave, angepasste „Blockflötenmädchen“. Im Zentrum ihrer Installation Ghosts, Gates, Spills, and a Fog Machine steht eine Gruppe von vier Blockflöten, die ab und zu kleine Rauchwolken ausstoßen. Die titelgebenden Musikerinnen Inga, Kathrin, Judith, Christin sind abwesend, aber dennoch präsent. Mit unserem Atem sind wir in besonderer Weise mit Blasinstrumenten verbunden – das Konsumieren von Rauchwaren wird ebenfalls vom Atem der Raucherin getragen, ist jedoch dem Blockflötenspiel in seiner gesellschaftlichen Konnotation diametral entgegengesetzt. Weisser spielt hier auf den Übergang von Kindheit zur Jugend an, wo das Rauchen oft als Symbol des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Erwartungshaltungen praktiziert wird. Das Bild der rauchenden Blockflöte ist somit ein Bild des Transits.
Zur Ausstellung Transit erscheint ein Katalog, herausgegeben von Lotte Laub und Susanne Weiß.
Zur Eröffnung von Transit am 29. April präsentiert Zilberman | Berlin ab 19 Uhr ITINERANT INTERLUDE #45 ein eigens für die Ausstellung entworfenes Musik-Programm mit Performances der Violonisten Ali Moraly und Markéta Janoušková. Die Reihe ITINERANT INTERLUDES wird von Laurie Schwartz kuratiert und durch die initiative neue musik berlin gefördert.
Eingangsbild: Yane Calovski & Hristina Ivanoska: Wayside (Antoinette van Eyck's Study of Garments, 1935), 2020. Photo: Andrej Peunik
Saturday, 29.04.2023
11–20.30h: Opening
12h: Exhibition tour with Lotte Laub ] Susanne Weiß in presence of the artists
19 h: ITINERANT INTERLUDE #45: Performances by violonists Ali Moraly & Markéta Janoušková
Saturday, 3 June:
16h: Guided Tour w/ Lotte Laub & Susanne Weiß
18h: Panel w/ Antje Engelmann, Hanna Frenzel, Itamar Gov, Judith Raum, Annette Weisser, moderated by Lotte Laub & Susanne Weiß
Sunday, 16 July:
15h: Guided Tour w/ Lotte Laub & Susanne Weiß
Friday, 28 July:
18h: Finissage & Catalogue Launch w/ Yane Calovski & Hristina Ivanoska, Antje Engelmann, Hanna Frenzel, Itamar Gov, Iz Öztat, Annette Weisser, moderated by Lotte Laub & Susanne Weiß
Artist Pages
- Yane Calovski
- Sim Chi Yin
- Memed Erdener
- Itamar Gov
- Fatoş İrwen
- İz Öztat