Pressemitteilung - Namelessform



15/12/2023 - 10/02/2024


Zilberman | Berlin freut sich, die Soloausstellung Namelessform von Memed Erdener anzukündigen. 

Memed Erdener hatte in seiner letzten Ausstellung utopische Ministerien und Komitees gegründet, die den Eindruck erweckten, „eine andere Welt sei möglich“, und sie als Schilder dargestellt: „Büro für die Erfassung der Gräueltaten vorangegangener Regierungen“, „Abteilung für die Versöhnung mit der Vergangenheit“ oder „Leiter der Abteilung für die Befreiung des Körpers von Gott“. Diese Slogan-Schilder, die mal an Kafka, mal an Tanpınar erinnern, waren quasi Parolen für die Vorstellung eines neuen zukünftigen Landes, für die Etablierung einer andersartigen Kultur und Politik. Diese Ausstellung stellt das Gegenteil dar: Die ‚namenlosen Formen‘ sind still, satzlos, namenlos und ‚stumm‘. Aber Memed hatte einige poetische Sätze darüber hinzugefügt, was er mit diesen Formen zu tun gedenkt. Diese Formen und Sätze weisen auf eine kühle Destruktivität hin, die bei mir das Gefühl von einigen ‚verletzenden/modernistischen‘ AutorInnen hervorrief, die sich mit der Sprache und der Kultur selbst auseinandersetzen. Das Auflisten jener AutorInnen und Sätze soll jedoch nicht als Versuch verstanden werden, diesen namenlosen Formen einen Namen zu geben, sondern eine ‚Bande‘ entstehen zu lassen, die auch das Geschriebene umfasst, und die Reihen zu schließen.

„Ich sammle die Schatten, Silhouetten und Halbschatten auf der Erde. Ich bin jene Person, die verantwortlich ist für Formen, die sich dem Licht entziehen.“

Hier betritt sogleich Rimbaud die Bühne. Rimbaud, der poète maudit, der verfluchte Dichter, schreibt: „ich habe die Augen vor eurem Licht verschlossen“ und dichtet über die dunklen Ecken der Zivilisation, ihre Strahlen meidend. Henry Miller machte dazu die Vorhersage: „Ich glaube, dass in der Welt der Zukunft der Typus Rimbaud den Typus Hamlet und den Typus Faust ersetzen wird.“ Faust und Hamlet verhandeln auf tragische Weise die Welt, während Rimbaud mit einer eher rauschhaften und dämonischen Ablehnung handelt. Rimbaud hält der Zivilisation einen ‚rostigen Spiegel‘ vor, wie es hieß, und wirft dann alles über Bord. Er flieht vor den grellen und beklemmenden Lichtern, verschwindet, wird namenlos, verwandelt sich in einen ‚Namenlosen‘. Dann wird er als Jim Morrison wiedergeboren.

„Der Mensch ist auf Erden, um Namen zu geben. Meine Aufgabe ist es, das zu finden, was keinen Namen hat.

Die Suche nach dem Namenlosen ruft zwei Figuren auf die Bühne. Erstens Herrn Beckett. Zweitens Sevim Burak. Becketts bekannter Namenloser besteht aus den Monologen einer Erzählstimme, die sich in der Wahl eines Zwischenzustands, einer Mehrdeutigkeit als Ort und der Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Fixierung widersetzt. Diese Monologe bilden das Irrereden einer unbenennbaren Situation, wobei die Erzählstimme ihre Benennung immer wieder verschiebt und sich ihr entzieht. Dies könnte mit Becketts Irischsein in Verbindung gebracht und diese Flucht mit der Flucht vor dem ‚kolonialen Blick‘ gleichgesetzt werden, was manche auch taten.

Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Aufspüren des Namenlosen und dem, was Sevim Burak als „das Sprechen mit dem Nichtvorhandenen“ bezeichnet. Durch ihre kleine Literatur überführt Burak das, was stumm und namenlos ist, in die große Sprache. Als ein Rascheln, ein Flüstern oder ein ‚Gespenst‘. Everest My Lord lässt grüßen, indem Sevim Burak, sprechend mit dem Nichtanwesenden, vorschlägt, das Alphabet, die Zahlen und die geschichtlichen Ereignisse auf Beckettsche Weise ‚umzulernen‘ (indem sie sie zunächst unsinnig werden lässt), und verkündet, nur so könne eine neue Sprache erreicht werden.

„Namelessform ist ein stilles Subjekt. Außer Teil der Landschaft zu sein, hat es keinen Namen. Da es keinen Namen hat, ist es nicht Teil der reduktiven Struktur von Sprache. Es ist nicht greifbar, und deshalb ist es frei.“

Diese Beschreibung ruft Odradek auf die Bühne, eine der seltsamsten, unheimlichsten und undefinierbarsten Geschöpfe Kafkas. Ich hatte zuvor Folgendes über Odradek geschrieben: „Odradek ist eine groteske Figur Kafkas, die bis dato auf verschiedene Weise interpretiert wurde, sich aber stets einer Interpretation entzieht. Wegen seiner Gestaltlosigkeit und Unsterblichkeit wurde Odradek als Repräsentant des Unbewussten, einer Lacan’schen uneinnehmbaren ‚Wahrheit‘, einer existenziellen oder metaphysischen Angst gedeutet, aber wenn Sie mich fragen, ist Odradek im Grunde die ultimative nomadische Figur. Er passt in keine Darstellung und kein ‚Zuhause‘. Auf die Frage nach seinem Zuhause gibt er die großartige Antwort: ‚Unbestimmter Wohnsitz‘.“ Wenn wir in Odradek nicht einen Versager, sondern eine Figur der nomadischen Freiheit sehen, kann die Welt ein heiterer Ort sein. Odradek hat sich verirrt und ist deshalb frei. Er ähnelt ein wenig dem Schreiber Bartleby, der jeden Befehl mit den Worten „Ich möchte lieber nicht“ verweigert; Recht und Ordnung gelten für ihn nicht.

„Ich schaffe die erste Person Singular ab... Sie unterwirft sich nicht der Chronologie... Niemand kann ein Wort vollständig verstehen... Manche wissen, dass der Sinn jenseits der Worte liegt.“

In diesen ‚utopischen‘ Sätzen, die für ein zukünftiges Land geschrieben wurden, sind die wesentlichen Strategien des modernen Schreibens verborgen. Töte die erste Person Singular (Beckett, Kafka und andere), sprenge die Chronologie (Joyce, Woolf und andere), entziehe Wörtern die Bedeutung und sprenge die Grammatik, sodass eine neue Kollision von Bedeutungen entsteht (Lautréamont, Artaud und andere). In der türkischen Literatur haben ‚Moderne‘ wie Oğuz Atay, Sevim Burak, Bilge Karasu, Latife Tekin, Vüs'at O. Bener und Lale Müldür diese modernistischen Explosionen herbeigeführt – zum Glück. Wenn Sprache und Schrift zu etwas nütze sind, werden sich durch diese Explosionen neue Horizonte auftun und das Land wird ein besserer Ort sein. Memeds ‚Namelessforms‘ können ebenfalls als Teil dieser Bewegung verstanden werden, als Teil einer stillen modernen Explosion.

Text: Sprechen mit Namelessform von Ahmet Ergenç
Übersetzung aus dem Türkischen von Seda Mimaroğlu

Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: berlin@zilbermangallery.com

Memed Erdener (geb. 1970, Istanbul) ist ein in Istanbul lebender bildender Künstler. Zu seinen Einzelausstellungen zählen: Utopian Bureaucratic (Zilberman, Istanbul, 2021), Beauty of Bigotry (Zilberman, Berlin, 2017), I Only Did What I Was Told To Do (Zilberman, Istanbul, 2016), Mom I'm Going Out to Pour Some Concrete (mit Antonio Cosentino, Studio-X, Istanbul, 2015), There is No God in the Sky Only Birds (Galerie NON, Istanbul, 2014), I Didn't Do This, You Did (Galerie NON, Istanbul, 2010). Zu seinen Gruppenausstellungen zählen Transit (Zilberman | Berlin, 2023), The Anarchistic Amateur's Alphabet (< rotor > center for contemporary art, Graz, Österreich, 2019), Istanbul Passion, Joy, Fury (The National Museum of XXI Century Arts, Rom, Italien, 2015), Black&White (Van Abbemuseum, Eindhoven, Niederlande, 2013; Museum of Modern Art, Warschau, Polen, 2011), The 13th Biennial of Art: Pure Expression (Serbien, 2008) und 10. Istanbul Biennale (Istanbul, Türkei, 2007). Memed Erdener studierte Grafikdesign an der Mimar Sinan University of Fine Arts. Er veröffentlichte Karikaturen in satirischen Zeitschriften wie der Wochenzeitschrift Deli (Chaos). In seinen früheren Ausstellungen trat er unter seinem Pseudonym Extramücadele (Extrastruggle) auf. Er stand der 1996 gegründeten Künstlergruppe Hafriyat nahe, die sich von der kommerziellen Kunstszene Istanbuls löste, um in einer Zeit des raschen Wandels ein Forum für den freien gesellschaftlichen Dialog zu schaffen.



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  - Memed Erdener

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