Pondering Provenance

17/05/2024 - 06/07/2024


Pondering Provenance
Marianna Christofides, Itamar Gov, Judith Raum, Simon Wachsmuth

Kuratiert von Lotte Laub & Lusin Reinsch

Eröffnung: 16. Mai, 18-20.30
17. Mai – 6. Juli 2024
Zilberman | Berlin, Schlüterstraße 45

Zilberman | Berlin freut sich, die Gruppenausstellung Pondering Provenance anzukündigen. Die von Lotte Laub und Lusin Reinsch kuratierte Ausstellung versammelt Arbeiten von Marianna Christofides, Itamar Gov, Judith Raum und Simon Wachsmuth, die Zusammenhänge einer geschichtlich belasteten Herkunft reflektieren. Die Ausstellung folgt verschiedenen und teils unbekannten (kunst-)historischen Narrativen und richtet dabei den Fokus auf Momente des Wandels, den Wechsel von Eigentums- und Besitzverhältnissen und auf Provenienz im Hinblick auf Deutungsmacht. Inwieweit bestimmt die Erfahrung der Gegenwart den Blick auf die Vergangenheit und Zukunft? Vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Wahrnehmungen sensibilisiert die Ausstellung für ein Geschichtsbewusstsein, das von der Gegenwartserfahrung einer Wende ausgeht und hinterfragt bestehende Auffassungen, Beurteilungen und Zuordnungen.

Die in Pondering Provenance jeweils behandelten Geschichtsnarrative sind von Umschwüngen und Brüchen geprägt. Sie handeln von Geschichten der Aneignung, Ausbeutung und Auslöschung und zeigen, wie sich Bedeutungszuschreibungen verändern, beispielsweise wie die Vereinnahmung von Künstler*innen durch totalitäre Regime zu bewerten ist. Dabei sind sich die Kunstschaffenden der prekären Verhältnisse zwischen historischer Erfahrung, Erinnerung und Erzählung bewusst. Sie verwenden mitunter Strategien der Subversion, wie Itamar Gov in seiner Installation zu Caspar David Friedrich, oder arbeiten mit der Abwesenheit von Bildern und Inhalten, die nur durch ihre Spuren bezeugt werden, wie Simon Wachsmuth in seiner Arbeit Embarkation for Cythera, Trial and Error, mit dem er auf das Watteau-Gemälde Einschiffung nach Kythera Bezug nimmt. Scheinbar harmlose Materialien erweisen sich als Träger für ein komplexes, politisch aufgeladenes Narrativ, wie in Judith Raums Installation Textile Territories zum Bauhaus-Gittertüll. Die Recherchen von Marianna Christofides zu einer ehemaligen Friesgruppe der Berliner Akademie der Künste führen sie bis in die Petrologie und einen historisch belasteten Steinbruch im Elbsandsteingebirge. Schließlich arbeitet Christofides mit der Lautlichkeit der Stimme, die sich bei ihr zwischen Klang und Bedeutung entfaltet und zur Erfahrung von Potenzialität wird. In allen Werken wird den jeweiligen Inhalten zu einer Präsenz in der Gegenwart verholfen. Historische Erfahrung wird nicht nur vergegenwärtigt, sondern auch auf eine Zukunft hin geöffnet.

Mit dem Motto „esse est percipi“ (Sein ist wahrgenommen werden) zitierte Samuel Beckett den Philosophen und Theologen George Berkeley. Selbst wenn wir die eigene Wahrnehmung der Außenwelt auszulöschen versuchen, bleibt letztlich die Selbstwahrnehmung bestehen, der innere Klang, der uns stets begleitet. Dass ausgerechnet ein Caspar David Friedrich-Gemälde: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes Inspirationsquelle für Becketts Theaterstück Warten auf Godot war, mag auf den ersten Blick überraschen. Gemeinsam ist ihnen jedoch die relationale Sichtweise auf die Wirklichkeit, das Problem der Wahrnehmung und der Selbstwahrnehmung. In der Ausstellung Pondering Provenance spüren wir den Verletzungen von Kunstwerken nach, wie Kunstwerke zu verschiedenen Zeiten entsprechend dem zeitgeschichtlichen Hintergrund unterschiedlich aufgefasst und gewertet werden, was zeigt, dass der Gegenstand der Betrachtung so ist, wie er wahrgenommen wird. Dabei fließen Beurteilungskriterien der jeweiligen Epoche wie auch der Betrachtenden sowohl in die Thematik eines Kunstwerks und in seine Gestaltung wie auch in die Wahrnehmung eines Kunstwerks ein.

Itamar Govs Caspar David Friedrich, Degenerated #13: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (1819–20) nimmt unmittelbar Bezug auf das oben genannte Werk. Seine Serie Caspar David Friedrich, Degenerated (Caspar David Friedrich, entartet) besteht aus 33 Gemälden, von denen sich jedes auf eines der berühmtesten Werke von Friedrich bezieht. Kein Maler repräsentiere die deutsche Romantik des 19. Jahrhunderts mehr als er, so Gov, und heute zählen seine Gemälde zu den berühmtesten Kunstwerken, die in Museen in Deutschland und der ganzen Welt präsentiert werden. Gleichzeitig war Friedrich einer der vom NS-Regime am meisten gefeierten Künstler, der die „Essenz“ des „nordisch-männlichen“ Geistes jener Zeit verkörpern sollte.

Fast 85 Jahre nach der Eröffnung der berüchtigten NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ in München, die dazu aufforderte, Kunstwerke, die nicht in das Weltbild der Nazis passten, als „entartet“ zu brandmarken, abstrahiert Gov die Farbwerte der Gemälden von Caspar David Friedrich mit ihren kontemplativen Figuren und Ruinen vor gewaltigen Landschaften in gleichmäßigen Streifen. Damit reduziert er den inneren Klang der Werke in einem der oberflächlichen Wahrnehmung entzogenen Gestus einer Ästhetik, welche die deutsche Romantik ad absurdum führt und die ideologiegetriebene Interpretation der NS-Führung als sinnentstellend entlarvt. Er habe, so Itamar Gov, die Serie in einem ironischen Gestus der Revanche geschaffen, indem er durch die Abstraktion die schlimmsten ästhetischen Albträume der NS-Führung Wirklichkeit werden lässt. Govs Gemälde werden zum ersten Mal im Jahr des 250. Geburtstages von Caspar David Friedrich gezeigt. Die gewählte Wandfarbe, vor der die Arbeiten gezeigten werden, entspricht der Wandfarbe des Museumsraums, in denen die originalen Gemälde ausgestellt werden. Damit weist er auf dessen Herkunft, Status und museale Geschichte hin.

Marianna Christofides widmet sich in zwei Projekten der Provenienz von Material. Ihre von der Akademie der Künste Berlin in Auftrag gegebene Arbeit, In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort (In the hollow of my muteness lay a word), benannt nach einer Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann, spiegelt unsere gegenwärtigen soziopolitischen und ökologischen Herausforderungen wider und entlarvt diese als Echos im großen Kontinuum von Aneignung und Gewalt. In dieser Arbeit ist Fragilität als Motiv mit der Poesie des Materials verwoben, das einen stillen Widerstand gegen die ihnen zugefügten Ungerechtigkeiten leistet. Urania, eine Sandsteinstatue, zugleich Muse und Zeugin, stammt aus dem 18. Jahrhundert und schmückte als Teil einer Friesgruppe die Fassade der ehemaligen Akademie der Künste. Heute befindet sie sich, die Narben der Geschichte in sich tragend, versteckt hinter dichter Vegetation im Berliner Kleistpark. In einer Geste der Vergegenwärtigung formt Christofides die Verwundungen, die Bruchkanten ab, gießt sie in Bronze und ordnet die verwaisten Gliedmaßen vor dem Schattenriss der einstigen Friesgruppe neu an. Doch die Herkunft des Materials der Urania lädt zu weiteren Nachforschungen ein. Im Elbsandsteingebirge stößt sie auf unterdrückte Erzählungen über Zwangsarbeit in den Steinbrüchen während des Zweiten Weltkriegs. 

In der Installation Repotting Flowers wird die (menschliche) Stimme zum Ausgangsmaterial. Im Mittelpunkt stehen die eindringlichen 16mm-Bilder, die im und um das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück aufgenommen wurden, wo 130.000 Frauen inhaftiert und gefoltert wurden. Das Lager diente zudem innerhalb des NS-Konzentrationslagersystems als Hauptausbildungsstätte für weibliche Aufseherinnen. Nur ein Bruchteil dieser Aufseherinnen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur Rechenschaft gezogen. Der Film setzt mit einem gold-schimmernden Stoff ein, der Fragmente ausgegrabener Relikte der alltäglichen Existenz enthüllt. Während wir die Stimme der Vokalistin Almut Kühne hören, bleibt ihre Gestalt bis auf das Ausdehnen und Zusammenziehen ihres von hinten gefilmten Oberkörpers zunächst unsichtbar. Kontrastiert werden die Aufnahmen mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die aus einem Familienalbum stammen könnten und scheinbar harmlose Momente festhalten. Bei näherer Betrachtung jedoch offenbart sich eine Ambivalenz, die dazu veranlasst, die in scheinbar gewöhnlichen Momenten eingebetteten Erzählungen zu hinterfragen. Auf der Rückseite einer Fotografie ist der Name des Unternehmens Agfa zu lesen, das zwischen 1925 und 1945 Teil des IG-Farben-Kartells war, das „Zyklon B“ herstellte. Agfa war mit Ravensbrück über die Filmfabrik Wolfen in Bitterfeld-Wolfen verflochten. Dort wurde ein Außenlager errichtet, das bis 1944 Ravensbrück unterstellt war, bevor es Teil des militärisch-industriellen Komplexes Auschwitz-Birkenau wurde. Indem Marianna Christofides auf ORiginal WOlfen gedreht hat, ist das Filmmaterial selbst in diese Geschichte der Gewalt eingebettet. Die Materialität des Mediums wird Teil einer porösen Erzählung über Zelluloidproduktion, Zwangsarbeit und Massenvernichtung. Die Aussage einer ehemaligen Wärterin, die sich an die Aufgaben während des „Kommando Krematorium“ als „Umtopfen von Blumen“ (Repotting Flowers) erinnert, steht für die Banalität des Bösen und die Fähigkeit zur Normalisierung innerhalb von Systemen der Unterdrückung. Christofides bettet ihren Film in eine Installation ein, mit der sie Stimme und Ort greifbar werden lässt und die starren Muster der Sprache als vermeintlich eindeutigen Bedeutungsträger ins Wanken bringt.

Judith Raum hat für ihre Installation Textile Territories in Archiven weltweit recherchiert, um der letzten Stoffkollektion der Bauhaus-Textilwerkstatt am Übergang der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus 1933 ein Echo ihres Entstehungszusammenhangs zurückzugeben. Die Arbeit kreist um den sogenannten Bauhaus-Gittertüll. Es handelt sich um transparente, den Lichteinfall modulierende Fensternetze, die das Bauhaus noch 1933 in unterschiedlichen Varianten herausbrachte. Die letzten erhaltenen Muster fand Raum im MoMA in New York, wo sie aber nicht beforscht waren. Die Gardinen waren maschinelle Fabrikware und wurden um 1920 in ganz Deutschland hergestellt, allerdings immer mit eingearbeiteten floralen oder geometrischen Mustern versehen. Das Bauhaus erklärte nun die Grundstruktur dieser Ware, die Kästchenstruktur, zum fertigen Produkt. 

Mithilfe der begleitenden Videoarbeiten entwickelt Judith Raum zwei Narrative, die den schleierhaften Charakter des Gittertülls und die damit einhergehende Manipulation des Blicks nach Innen und Außen in Innenraumgestaltungen der 1930er Jahre thematisieren und in denen die leitenden Gestalterinnen der Bauhaus Textilwerkstatt – Otti Berger und Lilly Reich – ihre gegensätzlichen Ansichten über Design, Wirtschaft und Politik äußern. Für Berger spielten günstige Endpreise eine Rolle, Reich war dagegen gewöhnt, für reiche Kunden zu arbeiten. In den Videoarbeiten arbeitet Judith Raum die Diskrepanzen heraus – auch die Tatsache, dass Berger als Jüdin im Deutschen Reich schließlich verfolgt und ermordet wurde, während Reich weiter an reichstreuen Textilhochschulen lehrte.

Physisch wird diese Trennlinie auch durch das zweite textile Element im Raum greifbar, der Neuwebung des schwersten und dichtesten Typ Vorhangstoffs aus der genannten Kollektion, einem Trennvorhang in nachtblauer Viskose und Baumwolle. Dem im Kontrast dazu leichten, fast schwebenden Material Gittertüll widmet sich Raum, indem sie diesen in einem prozesshaften Ansatz mit hochpigmentierten Tuschen und großen Pinseln, auf dem Boden liegend, bemalt. Vor der Bearbeitung des Stoffes unterteilt sie ihn in unterschiedliche Partien, die sie pro Tag bemalt und die zuvor angefeuchtet werden, wodurch die Farben ineinanderfließen, sich überlagern und miteinander verschmelzen. Damit lenkt Judith Raum unseren Fokus auf die verschiedenen Kapitel ihrer Recherchen, auf die Brüche, Übergänge und die Komplexität dieses Narrativs. Zugleich schafft sie einen Dialog zwischen den historischen Protagonistinnen und sich selbst als Künstlerin. Sie schreibt sich ins Narrativ ein und ist sich ihrer eigenen Perspektivierung bewusst.

Simon Wachsmuth hat sich mit der Provenienz des Gemäldes Einschiffung nach Kythera des französischen Rokoko-Malers Jean-Antoine Watteau beschäftigt. Es existieren drei Fassungen des Gemäldes, eins befindet sich im Louvre in Paris, das kleinste und älteste im Städel Museum in Frankfurt am Main und ein weiteres im Schloss Charlottenburg. Um letzteres ist ein Rechtsstreit entflammt, denn, so lautete der Vorwurf, das Gemälde sei gleich zwei Mal durch die Hohenzollern an den Staat verkauft worden, 1926 und 1983. Ausgehend von diesem Streit um die Provenienz des Gemäldes untersucht Wachsmuth die Beziehung zwischen Rekonstruktion der Geschichte, materiellen Spuren und ihrer Perspektivität.

Wachsmuth hat für die Ausstellung eine präzise definierte Rechteckform direkt auf die Wand gemalt und darauf Stücke zerrissenen Papiers angebracht. Die Papierfragmente sind die Überreste eines Kunstdrucks, auf dem das Gemälde Einschiffung nach Kythera abgebildet ist. Einmal auf dem Farbfeld platziert, rahmen die Fragmente dieses ein und suggerieren die Rekonstruktion des ursprünglichen Bildformats. Die Seitenverhältnisse des Originals sind aber durch die fehlenden Teile nicht eindeutig nachvollziehbar – was eigentlich ein Hochformat ist, kann sich durch die Übertragung in ein Querformat verwandeln, während ein monumentales Werk auf die Größe einer Miniatur verkleinert werden könnte.

Watteaus Gemälde zeigt im Vordergrund eine vornehme Gesellschaft junger Leute am Ufer, an dem ein Schiff angelegt hat, im Hintergrund die Insel Kythera, dem Sehnsuchtsort fern aller Konflikte, Reich der Liebe, wo Venus der Sage nach aus dem Schaum des Meeres stieg. Utopien bauen auf dem Versprechen auf, bestehende Systeme grundsätzlich zu überwinden. Damit wohnt ihnen aber auch eine formzerstörende Kraft inne. Wachsmuth, der sich in seinen Arbeiten immer wieder auch mit Tendenzen zur Bildung binärer Antinomien kritisch auseinandergesetzt hat, hinterfragt sowohl durch das gewählte Bildmotiv als auch durch dessen Fragmentierung die Aktualität des Diskurses um Utopie, sei es als Bedürfnis oder als Erkenntnis einer Unmöglichkeit.

In unserer gegenwärtigen Zeit von Krise und Krieg kann gerade das Nachdenken über Provenienz die Funktion haben, auf unheilvolle Weichenstellungen in realen Entwicklungen hinzuweisen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über den Umgang mit der deutschen Geschichte möchte die Ausstellung Raum für politisches Denken und ästhetisches Handeln sowie für die Neubewertung tradierter Muster und Anschauungen schaffen. Pondering Provenance lädt dazu ein, andere Blickwinkel in Betracht zu ziehen und alte Bilder in neuer Perspektive zu sehen.


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